Erinnern, Glauben, Mündigkeit

2. Dez, 2020 | Innenwelten und das Leben drumrum | 2 Kommentare

Wir fühlen uns sprachlos. Nicht, weil wir nichts zu sagen hätten.
Sondern weil die – verdrehten, absurden, haltlosen, aber leider etablierten  – Behauptungen der „False Memory Theorie“ uns die Grundlage unserer Sprachfähigkeit nehmen. 

(Wer sich noch nicht mit dem „Fantasie Modell/ Falsche Erinnerungen“ beschäftigt hat, findet unten Literatur bzw. weiterführende Quellen.)

Durch die Behauptung, wir könnten uns die Gewalt womöglich unbewusst ausdenken, ohne das selbst zu merken (so genannte „Autosuggestion“), verlieren wir die Hoheit über unsere Aussagen.

Als Opfer eines Verbrechens, das naturgemäß keine Zeugen, nur Täter*innen und Mitwisser*innen hat, ist man ohnehin ziemlich machtlos.
Ich kann nur hier stehen und sagen: „Das ist mir passiert!“
Es liegt beim Gegenüber, ob es mir glaubt, oder eben nicht. In diesem Fall wird aber zumindest davon ausgegangen, dass die*r Betroffene selbst weiß, was passiert ist. Es gibt also eine Wahrheit.

Mit den Behauptungen der False Memory Theory wird uns sogar dieser eigene, letzte Bereich, abgesprochen. Die Fähigkeit, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden.

Das ist ungefähr 1000 Mal schlimmer. Einer Person nicht zu glauben – also zu unterstellen, sie würde lügen – ist etwas aggressives und meist ein offener Bruch. Jetzt aber muss ein Gegenüber sich nicht einmal mehr offen zu seiner Absage an das Opfer bekennen – denn das Gegenüber sieht das Opfer nun einfach als Opfer einer psychischen „Verwirrung“ und kann es vor diesem Hintergrund „bemitleiden“. Bloß die Gewalt, die wurde weggedichtet. Egal, wie sehr die*r Betroffene die Wahrheit verteidigt, es wird als umso stärkere „Verwirrung“ interpretiert. Umso verzweifelter/ emotionaler sie*r reagiert, umso größer die „psychische Labilität“ und damit „Anfälligkeit für Fremdsuggestion“. Sobald man durch diese Brille gesehen wird, kann man selbst nichts – nichts – mehr tun, um da raus zu kommen.

In der Aussagepsychologie (im Gegensatz zur klinischen Psychologie) gelten schwere Traumafolgestörungen nicht als Indiz für ein stattgefundenes Trauma, sondern als Indiz für mangelnde Aussagetüchtigkeit.

Es macht mich wirklich fassungslos, wie etabliert diese Theorien, die von Angeklagten und ihren Anwälten erfunden wurden, heute noch sind. Obwohl sie jeder Logik entbehren. Wissenschaftlich unhaltbar sind.
Kern der False Memory Theorie ist immerhin, dass das Unterbewusstsein in sich schlüssige Falscherinnerungen/ Lügen über Jahre hinweg „erfinden“ könnte – etwas, das jedem professionellen Schauspieler nahezu unmöglich wäre und wenn, dann nur mit sorgfältiger Planung gelingen würde, was bei Falscherinnerungen komplett weg fällt – Betroffene können angeblich „spontan“ perfekte Lügen entwickeln, aufrechterhalten, ihr komplettes Umfeld täuschen und merken das nicht mal.
Ihre Traumatherapeut*innen erkennen das auch nicht, weil nur Aussagepsychologen die Fähigkeit besitzen, solche „authentisch wirkenden“ Falscherinnerungen zu erkennen.

Ernsthaft?! Diese gesamte Theorie ist so lächerlich, dass es mich entsetzt, wie viel darüber diskutiert wird. Dikutiert werden muss(?). Einfach, weil ihr Einfluss zu groß geworden ist.

Doch sehen wir das nicht an vielen Stellen in der Gesellschaft? Wenn ein System nur etabliert genug ist, ist es sehr träge und kritikresistent und allein mit Logik und Argumenten kaum mehr änderbar.

Die Neuregelung aussagepsychologischer Gutachten 1999 wurde seitdem immer wieder kritisiert, aber nie mehr geändert.

Die scheinbar „neutrale“ Haltung mancher Therapeut*innen zu dem Thema finden wir auch nicht gerade hilfreich. Da wird von „emphatischem Zweifeln“ gesprochen. Das ist doch geradezu zynisch. In jedem, wirklich jedem anderen Lebensbereich wäre solch ein Umgang mit Erinnerungen geradezu abstrus.

„Naja, also ich bleibe schon ein bisschen skeptisch, ob Du wirklich Abitur gemacht hast. Es kann ja sein, dass Du Dich an die Farbe des Kleides, das Du beim Abiball getragen hast, falsch erinnerst. Vielleicht warst Du also gar nicht auf einer weiterführenden Schule!“

„Hm, also ich bin vorsichtig damit, wenn Du sagst, Du hättest diesen Roman gelesen. Der Dialog, von dem Du gerade erzählt hast, könnte schließlich ein bisschen anders abgelaufen sein. Ich habe das Buch zwar selbst nicht gelesen, aber gerade deshalb kann ich ja nicht sicher sein, ob der Dialog genau so war, wie Du ihn gerade erzählt hast. Und wenn Du diesen Dialog falsch erinnerst (was ja sein kann, ich kann das nicht prüfen, da ich das Buch nicht gelesen habe), ist vielleicht auch gar nicht wahr, dass Du das Buch überhaupt gelesen hast.“

Das ist exakt der Umgang mit Erinnerungen an Gewalt.

Auf einer Fortbildung sagte ein Facharzt zum Thema: „Ich kann nicht wissen, ob das stimmt, was mir Patienten erzählen. Wenn dann von schwarzen Kutten berichtet wird, weiß ich auch nicht, ob die Täter wirklich Kutten trugen. Aber das ist auch nicht wichtig. Wir behandeln schließlich die Symptome der PtBS, und ob die Gewalt so stattgefunden hat, ist dafür nicht wichtig. Wir sind keine Juristen, sondern Therapeuten.“

In ähnlicher Form habe ich das auch schon von anderen Therapeuten/ Ärzten gehört. So schnell wird die gesellschaftspolitische Bedeutung von Gewalt weggewischt. So einfach schützt sich ein Therapeut vor der Auseinandersetzung und dem Schmerz, der in der Erkenntnis liegt, was Kindern angetan wird. Und zwar nicht in einer „Parallelwelt“, sondern in der selben Welt, in der jeder von uns lebt. Unsere unpopuläre Meinung dazu: jemand, der sich nicht traut, die Berichte seiner Klienten ernst zu nehmen und daraus eine gesellschaftspolitische Haltung abzuleiten, sollte nicht mit Gewaltopfern arbeiten.

Das andere macht mich aber noch viel wütender: nämlich das ewige Rumreiten auf Details. Hier waren es die Kutten. Angenommen, eine Betroffene erinnert sich „falsch“. In Wirklichkeit trugen diese Täter Hawaii-Hemden. Und jetzt? So what? Das ändert an der Gewalterfahrung schlicht: nichts. Es ist nur dann relevant, wenn man von einer Fehlerinnerung bei Details auf das gesamte Ereignis schließen möchte.
Das ist komplett absurd: siehe die beiden Beispiele oben. Als ob eine „Fehlerinnerung“ an die Farbe des Abiball-Kleids bedeuten könnte, dass jemand gar kein Abitur gemacht hat.

Vermutlich ist dieses Detail aber sehr glaubwürdig, wenn jemand daran Erinnerungen hat (nur so am Rande).

Es ist genau dasselbe Ausmaß, wenn man sich an eine Kindheit voll wiederkehrender Gewalt erinnert, wie die Erlebnisse in der Schule. Wenn man also „empathisch bezweifelt“, ob das so war, dann ist das, als würde man bezweifeln, dass jemand wirklich auf einer Schule war.
Es mag manche Hochstapler geben, die als Patienten zu einem kommen und erzählen, sie seien auf einer Begabtenschule gewesen, in Wirklichkeit war es aber eine Förderschule. Okay. So kann man als Therapeut aber nicht arbeiten, wenn man ständig am Erzählten zweifelt. So funktionieren auch keine Freundschaften oder andere Beziehungen. Die Basis muss erstmal sein, dem anderen zu glauben. Zumindest das „Große“. Wenn alles, was dann folgt, dazu passt, gibt es schlicht keinen Anlass, zu zweifeln. Wenn also der Patient, der erzählt, dass er auf einer Begabtenschule war, emotional schildert, wie ihn das auch einsam gemacht hat. Wenn er einen außergewöhnlichen Wortschatz hat. In anderen Bereichen wiederum völlig naiv ist. Und und und. Dann ist das sehr stimmig. Und mensch geht davon aus: das stimmt.

Fallen einem Brüche auf, sind Sachen unstimmig, stolpert man: dann schaut man genauer hin. Sucht nach Erklärungen. Und entdeckt vielleicht einen Hochstapler. Oder einen Fehldiagnostizierten.

Warum kann man mit Gewaltschilderungen nicht ganz genauso vorgehen? Warum sollte man da „skeptischer“ sein als in anderen Bereichen?

Und damit meine ich nicht, dass Erinnerung unfehlbar ist. Dass man zersplitterte Erinnerungen sorgfältig sortieren muss, bevor man ein stimmiges Bild der Erlebnisse erhält, ist schlicht logisch.
Das wird aber immer häufiger mit der False-Memory-Debatte vermischt, und das halten wir für schädlich.

Denn die ist einfach Schwachsinn. Und wird auch dadurch groß gehalten, dass man sie so ernst nimmt. Und in Diskussionen Eingeständnisse macht: „Ja, klar können Erinnerungen auch falsch sein…“

Nein, können sie nicht. Betroffene und Helfer meinen damit nämlich in der Regel Details oder die Unsortiertheit und das Chaos bei dissoziierten Erinnerungen.
Die Gesprächspartner schließen von diesen Details aber aufs Ganze. Erneut. Das macht es abstrus.
Es gibt keinen Kontext, in dem Gewalt gegen Kinder anders interpretiert werden kann. Somit ist die Richtigkeit der Erinnerungen an das „Drumherum“ völlig egal. Es gibt nichts, was davor oder danach passiert sein könnte, das eine Vergewaltigung relativiert. Es ist egal, wo sie stattfindet oder was wer anhatte. Diese Details sind für einen selbst wichtig, um die Erinnerung zu sortieren. Aber die Gewalt lässt sich nur „wegreden“, wenn die gesamte Erinnerung, ihr Kern, als Einbildung abgetan wird. Das ist bei jemandem, der über Jahre wiederholte Gewalt erlebt hat und heute Folgen davon hat, aber eine Gesamt-Vernichtung.
Um nichts weniger geht es bei der Aussagepsychologie oder der False Memory Theorie: die Betroffene hat sich die Gewalt/ das juristisch Relevante, „eingebildet“.

Betroffene sollten sich nicht auf die Detail-Diskussion einlassen, die das verschleiert. Denn natürlich kennt jeder Irrtümer über irgendwelche Details.
Aber man kann sich keine Gewalterfahrungen mit Emotionen, Folgen, Glaubenssätzen, Körperreaktionen etc. ausdenken, schon gar nicht unbewusst. Man kann dazu einfach mal versuchen, sich vorzustellen, eine Tat X wäre mit einem ganz anderen Täter passiert. Sofort merkt alles in einem: Quatsch, so war es nicht, und das kann ich mir nichtmal vorstellen!
So viel zur Autosuggestion.

Niemand stellt in Frage, ob ich wirklich auf der Schule war, an die ich mich erinnere. Ob ich wirklich mal eine Beziehung mit X hatte.

Könnte es also vielleicht, ganz eventuell und womöglich, sein, dass das Vermeidungsverhalten der Gesellschaft auch hier greift?
Psychisch Kranke, die sich etwas ausdenken, sind wesentlich gesellschaftstauglicher als die Realität von Kinderfolter.

Die False Memory Foundation schreibt auf ihrer Website so schön, dass sie sich Sorgen um das Phänomen der falschen Erinnerungen machen. Merkwürdigerweise geht es dann aber nur um falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch. Dabei beziehen sich die Studien, auf die sich die FMF stützt, auf ganz andere Ereignisse. Warum setzt sich die FMF nicht für Menschen ein, die beispielsweise Geständnisse ablegen und daraufhin verurteilt werden? Nach ihren eigenen Studien müsste ihnen gerade das Sorgen bereiten.

Diese Täterlobby-Organisation geht so plump vor, dass wir es einfach frustrierend finden, wie gut sich ihre Positionen halten. Dass sie sich nichtmal Mühe geben müssen.

 

An alle Begleiter*innen: wenn eine Betroffene Euch fragt, ob ihr ihr glaubt, dann geht es niemals um irgendwelche Details. Es geht um den Kern, um die Frage, ob die Gewalt stattgefunden hat.

Es ist für diese Frage völlig irrelevant, ob noch Unsortiertes da ist. Ob es Erinnerungsfälschungen von Tätern gab, Inszenierungen, Verwirrung. Auch dann war da ja offensichtlich schwerste Gewalt.

Also nutzt doch einfach die Tatsache, dass ihr eben keine Richter seid, und seid parteiisch für Eure Klienten. Wenn alles stimmig ist, dann ist es vermutlich wahr. Wenn es über Jahre stimmig bleibt, dann ist es sicher wahr.

Mit „Stimmig“ meine ich die Gewalterfahrung im Kern. Dass dieser Mensch Opfer von Gewalt wurde. Wenn das feststeht, dann geht es bei jedem Bruch und Detail nicht um die Frage, ob jemand Opfer ist, sondern nur darum, was da wo verwirrt wurde und sortiert werden muss. 

Und die Antwort kann immer lauten: „Es ist keine Frage des Glaubens, denn ich nehme selbst wahr, dass Du/ ihr Gewalt erfahren hast. Das weiß ich, weil ich Deine Folgen sehe, weil alles stimmig ist, weil ich die Emotionen und Prozesse wahrnehmen und mitfühlen kann…“

Lasst die False Memory Debatte nicht auch noch bis in den geschützten Raum der Therapie eindringen.

Wir merken, dass dass es für uns ein Zerreißakt ist: der Wunsch, Öffentllichkeitsarbeit zu machen, einerseits, und die Ohnmachtserfahrung im Jahre andauernden Strafverfahrensprozess andererseits – durch den wir uns mit diesen Themen nochmal anders befassen müssen.

Kann man sich in die Öffentlichkeit stellen und sagen: „Ich habe Gewalt erfahren“ oder „Wir haben so viel Gewalt erfahren, dass wir Viele geworden sind“, wenn einem ein Gutachter nach einem einzigen Treffen bescheinigen könnte, man hätte sich alles nur ausgedacht?

Strafverfahren ohne Gutachter gibt es praktisch nicht mehr.

Wie viele Betroffene gibt es, die diese Erfahrung der erneuten Demütigung mit sich tragen und genau deshalb nicht mehr öffentlich werden und auch in der Gruppe von Betroffenen, die öffentlich wahrnehmbar sind, unsichtbar bleiben?

Die Wut möchte über all diese Dinge berichten, möchte sich die Stimme erstrecht nicht nehmen lassen.

Die Angst und die Scham wollen diesen Blog löschen, sich verkriechen und nie wieder sichtbar sein.

Und ich schwanke hin und her. Bin sprachlos.

Kennt das noch jemand? Was sind Eure Gedanken dazu? Wir freuen uns über Kommentare!

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