Türschwellen

23. Jul, 2019 | Innenwelten und das Leben drumrum | 2 Kommentare

Immer wieder begegnen uns Menschen, die lieber einen status quo aufrecht erhalten, als das Risiko einer Veränderung einzugehen. Oder die schwierige Themen lieber verdrängen, als hinzuschauen – aus welchen Gründen auch immer. Und je nach Mensch mehr oder weniger (un)bewusst. 

Über einen gewissen Zeitraum haben wir dafür Verständnis. Wenn man mit der Person redet, kann man versuchen, ihre Gründe zu verstehen und Mitgefühl zu haben.

Doch das hat bei uns eine Grenze.

Die Unterscheidung zwischen „nicht können“, „nicht wollen“, „nicht können wollen“ und „nicht wollen können“ ist extrem schwer. Und von außen meistens auch sehr anmaßend. Das kann ein Mensch nur für sich selbst herausfinden.

Und trotzdem.

Wenn wir zu lange „zusehen“, wie jemand im derzeitigen Status verharrt, weil es ja „noch schlimmer werden könnte“, entsteht in uns eine immense Wut.

Selbst wenn es sich um uns liebe Menschen handelt (oder gerade dann?). 

Am Ende empfinden wir es auch als Schlag ins Gesicht für all diejenigen, die den Mut haben, sich in Neues zu wagen. Denen oft unterstellt wird, dass sie es wohl gekonnt hätten, sonst hätten sie es schließlich nicht geschafft, oder?

Diese Unterstellungen erleben wir als Mensch, die Viele ist, ständig.

Wenn wir etwas tun, dann „konnten“ wir offensichtlich. Und JA, aber wie viel Nicht-Können, wie viel Nicht-Wollen wir dafür mit extremem Kraftaufwand und gegebenenfalls Schmerz wir dafür überwinden mussten, ist unsichtbar. 

Hat der, der über die Schwelle einer Türe tritt, wirklich einfach bloß weniger Angst als der, der davor sitzen bleibt und sagt: „Ich kann da nicht weiter gehen, meine Angst ist zu groß“? Vielleicht hatte er genauso viel oder sogar noch viel mehr Angst, aber hat es TROTZDEM getan, weil er/ sie neben der Angst auch Mut hatte.

Man distanziert sich nicht von einer Gruppierung, die extreme Gewalt ausübt, indem man denkt: „Der Ausstieg macht es noch viel schlimmer.“

Man hat auch keinen Punkt, an dem man denkt: „Ach ja, jetzt bin ich stark genug geworden, die Täter machen mir keine Angst mehr, also steig ich mal aus.“

Eine Distanzierung fängt an, während man noch dem Horror der Gruppe ausgeliefert ist. Mit kleinen Schritten, die unfassbare Angst machen. Die nicht der leichtere Weg sind, im Gegenteil. Aber man spürt, dass es „richtig“ ist. Man entscheidet sich gegen etwas, ohne das Andere erfahren zu haben. Man geht diese Schritte, obwohl man sie nicht gehen kann. Obwohl es jenseits jeder persönlichen Grenze liegt. Obwohl man unfassbare Angst hat. Und da ist auch keiner, der einen darin bestärkt, diese Schritte zu gehen.

Wenn ein Kind in Foltersituationen versucht, noch ein klein bisschen eigene Wahrheit und Wahrnehmung vor den Tätern zu verstecken, dann ist das unfassbar viel Mut. Aber eben auch viel eigene, persönliche Entscheidung. Ein eigener Wille, wo Täter behaupten, man habe keinen. Die Situation ist so krass, dass sich die Frage nach dem „Können“ nicht stellt.

Man „kann“ sich wohl nie gegen Täter wehren, wenn es um das „ich fühle mich bereit, das zu können“ geht. Und man tat und tut es doch.

Das ist, zurück bezogen auf die Alltags- und Lebenssituationen, in denen Menschen Schritte oder Reflexion vermeiden, weil sie unangenehm wären, vielleicht ein „zu extremes“ Beispiel.

Für uns ist es aber der ganz „normale“ biografische Kontext, in dem wir Nicht-können und Wollen erlebt haben. Der Referenzrahmen, vor dem wir (zumindest viele von uns) aktuelle Situationen betrachten und empfinden.

In denen die Höhe der Schwellen, vor denen manche Menschen sitzen bleiben, uns erstaunen. 

Wenn wir ehrlich sind, können wir es nicht wirklich verstehen, wie Menschen lieber ihre Muster weiterleben (und darunter leiden), als sich ihre Themen anzuschauen. Wie man in Beziehungen/ an Arbeitsplätzen/ in Situationen bleiben kann, obwohl sie einen unglücklich machen, nur weil eine Veränderung zu viel Angst macht.

Wir verstehen diese Menschen nicht, und wenn von uns Verständnis für diese Situationen verlangt wird, haben wir das eine Weile (manchmal auch ein paar Jahre lang), aber irgendwann hört das auf.

Wir sind Schritte gegangen, die wir gar nicht gehen konnten. Und haben es trotzdem gemacht. In Kontexten, die so viel heftiger waren, dass diese Türschwellen, vor denen manche hocken bleiben, uns – wenig wertschätzend ausgedrückt, aber ehrlich – lächerlich vorkommen.

Als Alltagsperson kann man da noch am ehesten mitgehen – aber irgendwann spüren auch wir die Wut von weiter Innen.

Und wissen regelmäßig nicht, wie wir damit umgehen sollen.

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